Von Erfahrungen anderer lernen kann schaden

Einer der wichtigsten Fähigkeiten von Menschen ist es, nicht nur aus den eigenen Erfahrungen, sondern auch von den Erfahrungen anderer zu lernen.

Das ist auch im Bereich Führung so.

Allerdings lauert hier eine riesengroße Gefahr.

Um das zu verdeutlichen, teile ich zunächst meine Erfahrung aus dem Vertrieb im B2B-Bereich und beschreibe dann, was das für das Thema Führung bedeutet.

Vertrieb ist eine der wenigen Tätigkeiten, die zumindest als gleich schwer gilt wie Führung – wenn auch auf andere Art und Weise.

Es herrscht enormer Erfolgsdruck und auch die eigene Bezahlung hängt meist von diesem Erfolg ab. Zusätzlich arbeitet man nicht nur für den eigenen Erfolg, sondern auch gegen die Konkurrenz.

Vertrieb braucht einiges an Selbstmotivation, viel Energie, oftmals Überwindung und man muss standardmäßig mit Rückschlägen, Abweisungen und Niederlagen umgehen.

Stell dir jetzt vor, es gibt ein Vertriebsteam in dem es einige langjährige erfolgreiche und einige neue, unerfahrenere Mitarbeiter gibt.

Wie bei Führung, wenn auch im kleineren Ausmaß, braucht es im Vertrieb Wissen, Konzepte, Werkzeuge und ein ausreichendes Training.

Meist findet es aber auch hier nicht statt (obwohl sicherlich mehr Vertriebsschulungen durchgeführt werden als Führungskräftetrainings).

Was passiert also? Die unerfahrenen Mitarbeiter orientieren sich an einer Vorlage und vor allem an den erfahrenen Mitarbeitern.

Der Neuling sieht, wie der erfahrene Mitarbeiter einen Großteil seiner Aufträge per E-Mail erhält, regelmäßig Zoom-Calls macht und nur hin und wieder telefoniert und Kunden besucht.

Als er aber versucht das Verhalten zu kopieren, stellt er schnell fest, dass er damit keinerlei oder nur sehr wenig Erfolg hat. Warum funktioniert es beim erfahrenen Mitarbeiter aber nicht bei ihm?

Ganz einfach: Der erfahrene Mitarbeiter befindet sich in einer komplett anderen Situation als der Neuling.

Der Neuling sieht nicht, dass der erfahrene Mitarbeiter sich in den letzten 20 Jahren ein Kundennetzwerk inklusive persönlicher Beziehungen und Vertrauen aufgebaut hat.

Der erfahrene Mitarbeiter weiß mittlerweile ganz genau, wann welcher Kunde in der Regel wieder einen Bedarf hat, was seine Entscheidungskriterien und wie die internen Abläufe in der Kundenfirma sind.

Es reicht daher in seinem Fall oft, eine E-Mail zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem Angebot zu senden, damit es angenommen wird. Oftmals braucht es noch einen Zoom-Call, um Details zu klären – aber im Großen und Ganzen läuft der Prozess sehr smooth und stabil.

Ebenso ist der Aufbau neuer Kunden für den erfahrenen Mitarbeiter wesentlich leichter. Erstens kennt er den Markt ausgezeichnet, zweitens erhält er oft warme Empfehlungen bestehender Kunden und startet somit gleich mit einem Vertrauensvorschuss bzw. es kommen sogar potenzielle Kunden auf ihn zu.

 

Nichts davon trifft jedoch auf den Neuling zu.

Dieser kennt weder den Markt, noch verfügt er über bestehende Kundenbeziehungen, kennt Abläufe oder hat irgendwo Vertrauen etabliert.

Dementsprechend muss sein Prozess zur Kunden- und Angebotsgewinnung ein ganz anderer sein.

Er muss in der Regel viel mehr Telefonate führen, potenzielle Kunden persönlich besuchen und sich nach und nach Beziehungen und Vertrauen aufbauen.

Potenzielle Kunden, die weder ihn noch seine Firma kennen, werden auf e-Mails kaum oder gar nicht reagieren. Ohne genaue Kenntnis des Kunden und seiner Bedürfnisse können auch keine treffsicheren Angebote gestellt werden.

Sprich, alles, was beim erfahrenen Mitarbeiter funktioniert, funktioniert beim Neuling nicht.

Und so ist dieser komplett frustriert, erhält noch mehr Druck, scheitert kläglich und kommt zur Überzeugung, dass er für den Vertrieb nicht gemacht ist.

Und genau gleich verhält es sich beim Thema Führung.

Auch hier orientieren sich neue Führungskräfte an jenen, die bereits über 20 Jahre Erfahrung verfügen und erfolgreich ihr Team führen.

Aber wie auch im Vertrieb, werden hier viele Dinge übersehen.

 

So sieht der Neuling, wie die erfahrene Führungskraft kollegial mit ihren Mitarbeitern umgeht, diesen viel Freiraum lässt und Aufgaben eher unstrukturiert überträgt – und damit großen Erfolg hat.

Weil ihm das gefällt, versucht der Neuling es mit seinem Team ähnlich zu machen und es endet in komplettem Chaos.

Wie beim Vertrieb hat der Neuling nicht erkannt, dass er sich in einer komplett anderen Situation befindet als die erfahrene Führungskraft.

Diese arbeitet schon zig Jahre mit ihren Mitarbeitern zusammen.

Sie hat gute Strukturen geschaffen, einen hohen Standard etabliert, an den sich ihre Mitarbeiter halten, hat mit allen gute Beziehungen aufgebaut und weiß genau, welcher Mitarbeiter welche Informationen braucht, um seine Arbeit gut zu erledigen und vieles mehr. Zudem vertrauen die Mitarbeiter der erfahrenen Führungskraft und wissen, wie diese in unterschiedlichen Situationen reagiert.

Und weil das so ist, kann diese Führungskraft mit ihren Mitarbeitern sehr kollegial kommunizieren und muss Aufgaben nicht genau strukturieren oder darstellen. Die Vorarbeit dafür ist in den vergangenen Jahren geleistet worden.

Zusätzlich kann es sein, dass die Aufgaben und Herausforderungen des eigenen und des beobachteten Teams komplett unterschiedlich sind und daher einen komplett anderen Führungszugang brauchen.

Je nach Ausbildungsgrad, Dynamik, Flexibilität und anderen Faktoren, braucht es mehr oder weniger Standardprozesse, mehr oder weniger enge Führung, usw.

 

Der umgekehrte Weg des Erfahrungsaustausches ist dabei genauso gefährlich, vielleicht sogar gefährlicher.

Wenn erfahrene Führungskräfte Neulinge einschulen, schadet das oft mehr, als es hilft. Vieles ist ident mit den oben beschriebenen Gefahren.

Mit einem großem Unterschied.

Wenn der Neuling sich von sich aus an jemanden anders orientiert, dann besteht immer die Möglichkeit etwas zu übersehen und das ist dem Neuling in der Regel bewusst.

Wenn aber die erfahrene Führungskraft dem Neuling unter die Arme greift, dann ist sie sich sicher, dass sie alles Wesentliche erklärt und bespricht. Tut sie aber nicht.

Der Grund, warum dies geschieht, ist, was ich „den Fluch des Wissens“ bezeichne.

Wenn man einmal eine Tätigkeit beherrscht und Erfahrungen gesammelt hat, dann kann man sich nicht mehr vorstellen, wie es ohne diese wäre. Sprich, die hundert Kleinigkeiten, die erfolgreiche Führung ausmachen und mittlerweile in Fleisch und Blut übergangen sind, werden schlichtweg übersehen.

Und wenn es dann nicht funktioniert, dann stellt man die Eignung des Neuling zur Führungskraft in Frage – schließlich schafft er es nicht, dass erfolgreiche Wissen umzusetzen.

Die fehlenden Kleinigkeiten würden vielleicht auffallen, wenn die erfahrene Führungskraft den Neuling eine Zeit lang bei seiner Tätigkeit beobachtet, aber dies geschieht defacto nie – schließlich hat die erfahrene Führungskraft selbst ein Team zu führen.

So fallen diese Dinge alle unter den Tisch, der Neuling ist frustriert, die erfahrene Führungskraft ist frustriert, die Mitarbeiter sind frustriert und man kommt zur Erkenntnis, dass der Neuling nicht zur Führungskraft gemacht ist.

Oder dieser kämpft sich mühsam die nächsten Jahre weiter, macht zig Überstunden, man verliert ein, zwei Mitarbeiter auf dem Weg und irgendwann einmal entwickelt sich eine gewisse Kompetenz– oder nicht.

 

Aus den oben beschriebenen Gründen trainiere ich in meinen Trainings auch nicht ein „so macht man das“. Das gibt es nicht.

Stattdessen braucht es ein umfassendes Verständnis vom Führungsaspekt, der gerade zum Tragen kommt. Es braucht unterschiedliche (!) Praxisbeispiele zur Orientierung – damit verstanden wird, wie das Konzept und der Führungsaspekt im Berufsalltag unter unterschiedlichen Bedingungen aussehen kann.

Anschließend wird ein Werkzeug trainiert, mit Hilfe dessen dieses Wissen Step-by-Step im Berufsalltag und auf die eigene Situation angewandt werden kann.

Und schlussendlich folgt eine Umsetzung des Werkzeug mit Feedback von mir. Dieses Feedback erhalten auch andere Führungskräfte auf ihre Umsetzung.

Aus diesem gesamten Prozess heraus und der Kombination von Grundkonzept, Praxisbeispiele, Werkzeug, Umsetzung, Feedback und Erfahrung anderer entsteht dann Kompetenz.

Und ja, wenn das Wissen um das „Dahinter“ gegeben ist, dann helfen Erfahrungen einem weiter und man kann viel daraus lernen. Aber es braucht eben ein Grundverständnis und eine Grundkompetenz, damit man die Erfahrungen anderer richtig einordnen kann.

Hat man das nicht, läuft man Gefahr, dass die Erfahrungen anderer schädlicher sind, als wenn man auf gut Glück darauf lostrainiert hätte.

Und wer kein Führungskräfte-Training machen will, der sollte zumindest ein fundiertes Fachbuch zur Orientierung nehmen.

 

 

– Autor –

Stefan Portrait

Stefan Delano

Gründer von
Delano Training, Coaching & Consulting

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